Wo stehen wir als Gesellschaft und wo bewegen wir uns hin? Das wollten wir herausfinden und haben 2019 über 4.000 Menschen befragt. Mit unseren Ergebnissen wollen wir eine andere Perspektive auf die deutsche Gesellschaft bieten und dadurch neue Ansätze für Zusammenhalt ermöglichen.
Um die Zukunft gestalten zu können, sollten wir wissen, wo wir heute als Gesellschaft stehen – und wohin wir uns womöglich bewegen. Schließlich zeigt der Blick in andere Länder, dass auch stabile Demokratien durch Polarisierung unter Druck geraten und gesellschaftliche Konflikte das Leben der Menschen bestimmen.
Wir haben uns deshalb Anfang 2019 aufgemacht, die deutsche Gesellschaft im Hier und Heute zu verstehen. Was verbindet uns, was trennt uns? Was sorgt für Streit? Wie schauen die Menschen in Deutschland auf ihr Land und auf ihre Gesellschaft? Und was erwarten sie sich 30 Jahre nach dem Mauerfall von der Zukunft? Für uns lautete dabei eine zentrale Frage: Können gesellschaftliche Entwicklungen wie in den USA, Großbritannien oder Frankreich auch in Deutschland passieren?
Tatsächlich weist einiges darauf hin, dass sich die Dinge auch hierzulande verändern. 70 Prozent der Menschen in Deutschland sind der Meinung, dass sich das Land in die falsche Richtung bewegt. Jeder zweite ist unzufrieden damit, wie die deutsche Demokratie funktioniert. Die Mehrheit findet, dass sich die gesellschaftliche Lage in den letzten fünf Jahren verschlechtert hat, während nur fünf Prozent erwarten, dass sie sich in den kommenden Jahren verbessern wird.
Um zu verstehen, wie es um den Zustand und die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft bestellt ist, haben wir im Jahr 2019 über 4.000 nach repräsentativen Kriterien ausgewählte Menschen befragt und Gruppendiskussionen mit Bürgerinnen und Bürgern in verschiedenen deutschen Städten geführt. Da die Erklärungskraft traditioneller Kategorien (wie z.B. sozioökonomischer, demografischer oder parteipolitischer Indikatoren) in den Debatten der letzten Jahre immer häufiger an ihre Grenzen stößt, sind wir neue Wege gegangen und haben die Instrumente der Politikwissenschaft mit Ansätzen der Sozialpsychologie zusammengeführt, um eine neue Betrachtungsweise von Gesellschaft zu ermöglichen.
Mehr über die Forschungsmethodik erfahren Sie hier.
Auf Basis unseres Forschungsansatzes haben wir sechs Typen in der deutschen Gesellschaft identifiziert, die unterschiedliche Wertefundamente haben und sehr unterschiedlich auf Gesellschaft schauen. Benannt haben wir sie nach ihrem Verhältnis zur Gesellschaft:
Gesellschaftlicher Zusammenhalt gelingt nur mit anderen Typen gemeinsam
Keiner der gesellschaftlichen Typen hat auch nur annähernd eine Mehrheit. Dies bedeutet, dass gesellschaftlicher Zusammenhalt nur dann gelingen kann, wenn Menschen mit unterschiedlichen Wertefundamenten und Perspektiven auf Gesellschaft Gemeinsamkeiten und Unterschiede anerkennen und Raum für produktive Diskussionen finden. Sie alle sollten an der Aushandlung der Zukunft ihres Landes beteiligt werden.
Die sechs Typen sind oft aussagekräftiger als demografische oder politische Indikatoren anhand derer gesellschaftliche Fragen üblicherweise diskutiert werden.
Unsere Segmentierung zeigt auch: Es ist zu einfach, sich in gesellschaftlichen Debatten schlicht der gängigen „Schubladen“ zu bedienen. Der Blick auf die Grundüberzeugungen der Menschen und ihren subjektiven Blick auf Gesellschaft offenbart nämlich, dass viele der Trennlinien, die das Land (vermeintlich) durchschneiden, von erstaunlich geringem Bestand sind. So ist Deutschland, was die Wertefundamente der Menschen angeht, zum Beispiel nicht in einem Ost-West-Konflikt gefangen. Grundwerte, Moralvorstellungen und subjektive Perspektiven auf die Gesellschaft der Menschen in Ost- und Westdeutschland unterscheiden sich deutlich weniger, als man gemeinhin denkt. Vier von sechs der auf Basis dieser Aspekte gebildeten Typen verteilen sich gleichmäßig – d.h. im Schnitt der Gesamtbevölkerung - über Ost und West. Dennoch diskutieren wir auch 30 Jahre nach dem Mauerfall oft geradezu intuitiv entlang der Ost-West-Grenze. Ohne lebens- und erfahrungsweltliche Unterschiede negieren zu wollen, finden wir, dass es lohnt, den Blick stärker auf unsere Gemeinsamkeiten zu richten.
Die Studie zeigt, dass die Wertefundamente der Menschen in Ost und West sehr ähnlich sind – fast alle sechs Typen findet man gleichmäßig auf das Land verteilt.
Stattdessen legt unsere Forschung eine andere, für das Gelingen von Zusammenhalt in Deutschland wesentlich relevantere Teilung der deutschen Gesellschaft offen. Wir erkennen nämlich, dass es in der deutschen Gesellschaft insgesamt drei funktionale „Rollen" gibt, die von jeweils zwei der Typen eingenommen werden:
Das unsichtbare Drittel
Vor allem das unsichtbare Drittel, bestehend aus den Pragmatischen und den Enttäuschten, verdient Aufmerksamkeit, findet es doch in unserer Gesellschaft am wenigsten Halt. Dies ist ganz wortwörtlich zu verstehen: Während 30 Prozent aller Befragten sagen, dass sie einsam sind, ist dieses Gefühl im unsichtbaren Drittel überdurchschnittlich stark ausgeprägt. Zugleich ist der Glaube, das eigene Schicksal selbst in der Hand zu haben, bei den Pragmatischen und den Enttäuschten besonders schwach. Doch nicht nur im persönlichen Leben fehlt es an Einbindung, auch das demokratische System gibt ihnen weniger Halt als anderen. Kategorien wie „Links“ und „Rechts“ geben dem unsichtbaren Drittel deutlich weniger Orientierung, und der Bezug zur Politik fällt insgesamt merklich schwächer aus.
30 Prozent der Menschen in Deutschland sind sozial und politisch nicht eingebunden.
In der Einbindung des unsichtbaren Drittels liegt aus unserer Sicht eine zentrale Aufgabe für Politik und Zivilgesellschaft. Ein Gemeinwesen kann nur dann wirklich funktionieren, wenn alle gesellschaftlichen Gruppen erreicht werden. Zudem schlummert hier ein sehr großes Nichtwähler-Potenzial: Über die Hälfte der Nichtwähler sind im unsichtbaren Drittel zu finden. Wir brauchen also Formate und Narrative, die tatsächlich geeignet sind, diese Gruppen zu erreichen.
Die gesellschaftlichen Pole
Gesellschaftliche Pole sind die Offenen und die Wütenden: Sie sind die Treiber der derzeitigen gesellschaftlichen Auseinandersetzung und prägen aufgrund ihrer überdurchschnittlichen Präsenz in den sozialen Medien die Debatten. Dabei verfolgen sie ein völlig unterschiedliches, aber jeweils fest umrissenes Idealbild der Gesellschaft. Während die Offenen aber kompromissbereit sind, sind es die Wütenden nicht.
Die gesellschaftlichen Stabilisatoren
Die gesellschaftlichen Stabilisatoren (Involvierte und Etablierte) könnten der Grund sein, warum die politische Lage in Deutschland derzeit stabiler ist als in anderen westlichen Ländern: Sie sind bestens in die Gesellschaft eingebunden und mit der Demokratie wesentlich zufriedener als andere. Sie finden nach wie vor gute Orientierung im Links- und Rechts-Spektrum und sind außerdem die einzigen, die Politikern noch überwiegend vertrauen.
Dass es die gesellschaftlichen Stabilisatoren gibt, ist jedoch kein Grund zur Entwarnung, sind sie doch im Schnitt die älteste Gruppe in unserer Untersuchung – in den jüngeren Altersgruppen sind sie unterrepräsentiert. Bei den Jungen dominieren erwartungsgemäß die Offenen (als engagierter und politisch aktiver Typus), aber vor allem die politikfernen Pragmatischen. Das Bild einer überwiegend progressiven und engagierten Jugend, das z.B. durch die Fridays-for-Future-Bewegung transportiert wird, lässt sich also nicht halten. Stattdessen zählen 45 Prozent der 18- bis 29-Jährigen zum unsichtbaren Drittel. Ihre stärke Einbindung ist im Hinblick auf die mittel- und langfristige Solidität und Lebendigkeit der Demokratie absolut zentral sein.
Verteilung nach Altersgruppen
Es gibt also in der deutschen Bevölkerung völlig unterschiedliche Perspektiven auf das Gemeinwesen und auch die Nähe zu dessen Institutionen und Akteuren variiert in erheblichem Maße. Man könnte fast sagen, dass die Menschen innerhalb derselben Gesamtgesellschaft „in verschiedenen Welten“ leben.
Neue Wege zu finden, dies zu überbrücken und die Gesellschaft zu einer konstruktiven Willensbildung zusammenzuführen, ist eine zentrale Voraussetzung, den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Diskursfähigkeit in Deutschland zu sichern. Denn Demokratie lebt vom kompromissfähigen Ringen um die beste Lösung. Streitfähigkeit ist Grundlage für die Gestaltung der Zukunft unserer Gesellschaft, braucht aber ihrerseits ein stabiles Fundament des gesellschaftlichen Miteinanders, des Respekts und des Vertrauens, auf dem sie wirken kann. Eine immer schärfer geführte „Wir gegen die“-Debatte ist nicht zielführend.
Derzeit steht es nicht gut um die Diskursfähigkeit in Deutschland: 75 Prozent der Menschen sind sich einig, dass die öffentliche Debatte in Deutschland zunehmend hasserfüllt ist. Dazu herrscht scheinbar immer mehr Sprachlosigkeit. 73 Prozent sind der Ansicht, dass selbst berechtigte Meinungen nicht mehr öffentlich geäußert werden können, ohne dass man dafür angegriffen wird. Wir haben also derzeit kein unbelastetes Diskursklima, auf dessen Fundament die nötige Auseinandersetzung über die Zukunft stattfinden könnte. Dabei wäre eine funktionierende gesellschaftliche Debatte unerlässlich, weil es viel zu diskutieren gibt.
Es wird immer schwieriger, über gesellschaftliche Grenzen hinweg zu kommunizieren.
Blickt man von außen auf Deutschland, zeigt sich ein weitgehend positives Bild: Viele Jahre stabilen Wirtschaftswachstums und eine historisch niedrige Arbeitslosigkeit setzen die Bundesrepublik von vielen anderen westlichen Demokratien ab. Viele Bürgerinnen und Bürger vertrauen allerdings nicht auf diesen Status Quo und erwarten, dass sich die Lage verschlechtert, weil ihrer Ansicht nach wichtige Weichenstellungen verpasst würden. Nur 24 Prozent der Befragten finden, dass die Politik „derzeit die wichtigen Themen in Deutschland entschieden“ angeht. Zudem fühlen sich viele Menschen von der Politik nicht gehört – quer durch alle Gruppen der dreigeteilten Gesellschaft.
Insbesondere die Fokusgruppen, die für diese Studie in vier deutschen Städten durchgeführt wurden, ergaben, dass sich Deutschland für viele Bürgerinnen und Bürger wie ein Land im Wartezustand anfühlt – was dessen Zukunftsfähigkeit gefährdet. Gerade in zentralen Themenbereichen, wie zum Beispiel der Digitalisierung, aber auch der Alterssicherung, wünschen sich viele mutigeres Handeln, um das Land voranzubringen und für kommende Zeiten wetterfest zu machen. Das sollte Politik aufhorchen lassen, ebenso wie die Tatsache, dass 65 Prozent der Befragten finden, dass bei ihnen nicht genug vom wirtschaftlichen Erfolg ankommt – und das nach gut zehn Jahren wirtschaftlichem Aufschwung, Reduzierung öffentlicher Schulden und einer exponierten Rolle als wirtschaftlicher „Garant“ Europas in der Eurokrise.
Diese Vertrauenskrise paart sich mit einer Gesellschaft im Wandel, im Positiven wie im Negativen. Gewissheiten bröckeln, wie etwa die Notwendigkeit der kritischen Auseinandersetzung mit den deutschen Verbrechen während der NS-Zeit. 60 Prozent der Menschen in Deutschland sind der Meinung, dass ein „Schlussstrich“ unter die Debatte über die deutschen Verbrechen während der NS-Zeit gezogen werden sollte.
Auch die deutsche Identität ist im Wandel. War über Jahrzehnte gerade das deutsche Nationalverständnis von eher traditionellen Vorstellungen (z.B. Zugehörigkeit durch Abstammung) geprägt, zeigen unsere Ergebnisse, dass es sich mittlerweile ein gutes Stück von starren Zugehörigkeitskriterien gelöst hat: Die Zugehörigkeit zur deutschen Gesellschaft unterliegt zwar „Bedingungen“, aber man kann sie sich grundsätzlich erwerben. Und auch ansonsten sind die Identitätsanker vieler Menschen in Deutschland sehr modern.
Europäische und deutsche Identität sind für viele Menschen kein Widerspruch.
Für viele ist es selbstverständlich, Deutsche und Europäer gleichermaßen zu sein, obwohl sich immer noch ein großer Teil der Bevölkerung ausschließlich deutsch fühlt.
Zugleich sehen wir, dass die Menschen in Deutschland einzelne Gruppen sehr unterschiedlich bewerten. Vor allem Angehörigen der wahrgenommenen „Mehrheitsgesellschaft“ bringen sie die positivsten Gefühle entgegen, während Minderheiten und die sozioökonomischen Ränder der Gesellschaft im Vergleich abgewertet werden.
Es ist wichtig, die gemeinsamen Grundlagen unserer Gesellschaft wieder zu stärken und die (in Teilen durchaus intakte) Substanz des Miteinanders aktiv zu bewahren. Denn es gibt in Deutschland ein Bedürfnis nach Zusammenhalt: 70 Prozent der Menschen wünschen sich, dass wir trotz unserer Unterschiede zusammenfinden.
Zusammenhalt ist aber nicht nur wichtig für das gesellschaftliche Miteinander, sondern letztlich zentral für das Gelingen liberaler Demokratie. Eine Gesellschaft, in der „Wir gegen die“ gilt, ist nicht nur anfälliger für Spaltung, sondern auch nicht in der Lage, die großen Herausforderungen unserer Zeit produktiv zu bearbeiten und um die Zukunft zu ringen – von der Klimapolitik über die Migration bis zu fundamentalen Gerechtigkeitsfragen. Zusammenhalt bedeutet auch Konfliktfähigkeit.
Den Weg nach vorne sehen wir vor allem in folgenden Handlungsfeldern, für die wir gemeinsam mit Partnern neue Formate und Projekte entwickeln möchten:
Wir sollten es wagen, Gesellschaft anhand neuer Kategorien zu betrachten. Die weitverbreitete Intuition, wonach das Land sich vor allem in Ost und West, Alt und Jung oder Links und Rechts spaltet, bringt uns langfristig nicht weiter. Stattdessen sollten wir miteinander darüber diskutieren, welche Werte uns wichtig sind, welches Land wir uns eigentlich wünschen – und worauf wir uns dabei gemeinsam verständigen können. Dafür ist ein demokratisches Gemeinwesen schließlich da.
Ein wichtiger Schritt in diese Richtung ist die bessere gesellschaftliche und politische Einbindung des unsichtbaren Drittels. Politik und Zivilgesellschaft müssen sich für die Lebens- und Erfahrungswelt dieser Menschen öffnen und ihnen kommunikativ und inhaltlich Angebote machen.
Außerdem braucht es ein erneuertes Vertrauensverhältnis zwischen Bürgerinnen und Bürgern und Institutionen. Zu viele Menschen sind der Ansicht, dass sich die zuständigen Akteure weder für sie noch für die großen Zukunftsfragen des interessieren. Hier Vertrauen zurückzugewinnen, ist eine wichtige Gestaltungsaufgabe für politische Verantwortungsträger, gesellschaftliche Institutionen und für die Medien.
Wir haben den Zustand der deutschen Gesellschaft in einer groß angelegten quantitativen und qualitativen Befragung untersucht. Traditionell unterscheidet man in Untersuchungen dieser Art Menschen nach sozioökonomischen, demografischen oder (partei)politischen Kategorien. Deren Erklärungskraft stößt jedoch in den Debatten der letzten Jahre immer häufiger an ihre Grenzen. So sagt das Haushaltseinkommen noch nichts über Bedrohungsgefühle aus, und auch die Parteineigung hilft nicht immer dabei zu verstehen, wer zum Beispiel mit der Flüchtlingspolitik hadert und wer nicht.
Um eine neue Perspektive auf Gesellschaft und damit auch neue Ansätze für Lösungen zu ermöglichen, haben wir in der vorliegenden Studie einen für Deutschland innovativen und in der US-Studie „Hidden Tribes“ von More in Common erprobten methodischen Ansatz gewählt, der Instrumente der Politikwissenschaft mit Ansätzen der Sozialpsychologie zusammenführt.
Durch diesen wird klar, dass sich autoritäre Tendenzen massiv auf politisch-gesellschaftliche Einstellungen auswirken können. Vergleicht man beispielsweise das Antwortverhalten von Personen mit einer besonders geringen autoritären Veranlagung mit dem von Menschen mit einer besonders starken, ergeben sich beträchtliche Unterschiede bei einer ganzen Reihe von Fragen, die die deutsche Gesellschaft in den vergangenen Jahren wiederholt beschäftigt haben.
Gemeinsam mit dem Meinungsforschungsinstitut Kantar Public (ehemals TNS Infratest) haben wir im Jahr 2019 über 4.000 Menschen in Deutschland mittels quantitativer und qualitativer Methoden befragt und sie anschließend auf Basis ihrer subjektiven Verortung in der Gesellschaft, ihrer Perspektive auf das Land und folgender stabiler Grundüberzeugungen gruppiert:
Kern dieser statistisch durchgeführten Segmentierung waren somit ausschließlich Fragen zu Grundwerten und -einstellungen, es sind keine demografischen Indikatoren oder Fragen zu aktuellen politischen Debatten in die Segmentierung eingeflossen.